Sebastian Mehling: Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen, willkommen bei Geschichte und Geschichten aus dem Lindenhof, einem Projekt der GeWoSüd und des Genossenschaftsforums, in dem es darum geht, die Menschen aus dem Lindenhof zu Wort kommen zu lassen und zu hören, was für sie den Lindenhof ausmacht.
Ich bin Sebastian Meling vom Genossenschaftsforum. Wir haben hier unseren Werkraum in der Eythstraße 32, gleich neben der Bäckerei.
Hier am Weiher soll es diesmal um das Aufwachsen im Lindenhof gehen. Dazu habe ich mich mit Henrik und Jessica getroffen, die beide nicht nur von klein an hier im Lindenhof ihr Unwesen trieben, sondern jetzt auch die nächste Generation Lindenhofer großziehen.
Zwar können ihre Kinder sich nicht mehr auf den verlassenen Gleisen der Dresdner Bahn umhertreiben, aber am Weiher über süße Jungen und Mädchen quatschen oder Mirabellen klauen im Lindenhof, das sollte immer noch gehen.
Erzähler: Bevor wir aber über alle ihre Abenteuer im Lindenhof sprachen, habe ich Jessica und Henrik gefragt, sich einmal kurz vorzustellen und mir zu erzählen, wie es ihnen so ergangen ist, seitdem sie als Kinder in den Lindenhof zogen.
Jessica: Ich bin Jessica. Ich bin 33 Jahre alt, bin mit sieben Jahren – also 1996 – hier in die Siedlung gezogen, mit meinen Eltern. Ich war noch eine Zeit lang im Lindenhofer Hort und bin dann in die erste Klasse gekommen. Und für mich war es eine schöne Zeit. Ich habe tatsächlich immer noch heute ein, zwei Freunde aus der Grundschule, mit denen ich immer noch Zeit verbringe und wohne seitdem auch hier immer noch hier, mit meiner eigenen Familie inzwischen.
Sebastian Mehling: Und wie war es bei dir?
Hendrik: Ja, moin, ich bin Hecke. Bin jetzt mittlerweile 35 Jahre alt, wohne mit Unterbrechung seit 98 hier in der Siedlung, jetzt auch mit der eigenen Familie. Und bei mir war es ja so, dass ich quasi als Fünftklässler übergesiedelt bin. Ein Vorteil ist dann natürlich, dass man sofort alle Leute hier kennengelernt hat, die hier in der Siedlung auch groß geworden sind. Und das, was Jessi auch gesagt hat: Im Prinzip habe ich da auch meine langjährigste Freundin kennengelernt, die war mit mir in der Klasse und wir haben jetzt, ich glaube 22 Jahre Kontakt miteinander, der auch nie abgebrochen ist. Und ja, das ist halt schön, weil man halt per se immer auf „Du“ schon gewesen ist mit allen Leuten hier. Und ich denke, dass das eine ganz große Qualität hat.
Jessica: Es ist auch heute noch so, dass man zwischendurch wirklich noch Grundschüler von damals hier rumlaufen sieht und sagt“ Hi, schön, dich zu sehen“. Das ist schön. Also man merkt, dass einige auch tatsächlich noch hiergeblieben sind. Und das ist schön zu sehen.
Erzähler: Dem Lindenhof treu geblieben sind sie auch, obwohl er für Kinder nicht nur Vorteile bot. Henrik und Jessica erzählen, wie es war, wenn man mal was ausgefressen hatte.
Hendrik: Du hast halt als Kind hier Vor- und auch deine Nachteile.
Jessica: Korrekt!
Hendrik: Was entspannt ist: Du hast viel Freiheiten, du hast viel Freiraum. Im Prinzip passt jeder immer auf dich auf. Das wird auch für unsere Familien Relevanz haben, dass wir uns da nicht so einen Kopf machen müssen. Nachteil ist natürlich: Wenn du Mist baust, wissen alle sofort Bescheid. Das ist halt dieses Dorfcharakter, den wir hier so haben. Also Standardbeispiel ist halt echt, wenn man ja einfach mal wild durch die Gegend geholzt hat, dass man dann nicht nur in der Domnauerstraße, sondern auch in der Röblingstraße dann sofort einen auf den Deez kriegt, weil jeder weiß, wo du warst und welchen Nachbarn du geärgert hast.
Das andere Beispiel wäre halt, dass man, als man in der Oberschule gewesen ist, mit seinem besten Kumpel auf einer Parkbank saß, über Mädchen, Politik etc. gesprochen hat, Bierchen trank, dass deine Mutter oder auch dein Vater im Nachhinein genau wusste, wie viel Bier getrunken hast, welche Marke du getrunken hast und was das für ein Mädchen gewesen ist, über das du eigentlich gequatscht hast, was eigentlich unter euch bleiben sollte.
Sebastian Mehling: War das bei dir genauso?
Jessica: Genauso und anders, sage ich mal. Bei mir war das so, dass es immer hieß: „Bitte geh nicht zu dem Jungen nach Hause, das wollen wir nicht!“ Und genau das traf dann natürlich ein, man macht dann das, was man nicht machen sollte. Und die Fenster waren offen und man saß dann zusammen oben, hat gequatscht und dann kamen die Eltern vorbei und dann hieß es nur: „Jessica, komm da sofort runter!“
Genauso wie auf unserem Waschhaus – was hier immer noch existiert – da bin ich mit meiner Freundin immer rauf geklettert, haben die Mirabellen abgepflückt, haben die oben gegessen. Da sollten wir natürlich nicht raufklettern – haben wir trotzdem immer gemacht und das ist, wie Henrik sagt, immer rausgekommen. Also ein Geheimnis blieb nicht lange für sich allein.
Sebastian Mehling: Ja, aber was habt ihr noch sonst so für Früchte geklaut? Weil, es wächst ja einiges im Lindenhof, oder?
Hendrik: Ja, es wächst einiges über Mirabellen und Morellen klar. Ein bisschen Kirschen sind auch noch gewachsen. Aber ich selber war nie so Obst-affin. Da bin ich raus, da kann ich nicht viel zu erzählen.
Sebastian Mehling: Du bist eher aus der Bierfraktion?
Hendrik: So sieht’s aus (lacht). Ja, genau, wir waren halt eher die Leute, die Mist gebaut haben. Und zwar waren wir dann halt hier bei den Bahnschienen beispielsweise gewesen. Dann hast du da deine erste Zigarette geraucht, bis nach Hause gekommen, nach irgendwie 38 Kaugummis, die du dir reingepfiffen hast. Aber die Wege sind kurz und es wurde natürlich instant gepetzt und Ärger hast du trotzdem gekriegt.
Sebastian Mehling: Bei den Gleisen hier bei der S Bahn?
Hendrik: Ja, genau.
Jessica: Das Gelände war auch damals offen, also an der Endhaltestelle. Da konnte man auch immer direkt rauflaufen und für uns Jugendliche hieß es: „Da kann man ja mal gucken und….“
Sebastian Mehling: Da liegen noch so alte Schienen und so was?
Jessica: Ja, und ein Häuschen, glaube ich, stand da noch ein bisschen weiter runter.
Hendrik: Ein Häuschen stand da noch eine Zeit lang. Das haben sie, als der Park dann aufgebaut worden ist, abgetragen.
Sebastian Mehling: Und war das eine Möglichkeit, so ein bisschen aus diesem Dorf Lindenhof auszubrechen? Konnte man da ein bisschen freier Blödsinn machen als Jugendliche?
Hendrik: Naja, es ist ja in der Nachbarschaft, also kannst du nicht. Du musstest dich schon in den Bus setzen, um irgendwie richtig Blödsinn zu machen.
Jessica: Ja, immer raus aus der Siedlung. Also in der Siedlung konntest du keinen Mist bauen, ohne dass es halt jemand gesehen oder herausgefunden hat.
Erzähler: Also liebe Kinder, falls ihr auch mit rein hört, wisst ihr jetzt was ihr im Lindenhof nicht tun sollt – oder zumindest das Kaugummis auch nichts nützen, um Zigarettengestank zu übertünchen. Lasst lieber gleich die Finger davon. Aber ihr, die nächste Generation, ihr seid eh viel klüger, als wir Eltern und Großeltern es in eurem Alter waren. So ist es halt, wenn eine Generation auf die nächste folgt, auch im Lindenhof. Was der Lindenhof für Hendrik und Jessica ausmacht und was sie sich für ihre eigenen Kinder und ihre neuen Lindenhofer wünschen, das habe ich die beiden zum Abschluss natürlich auch gefragt.
Hendrik: Wir begreifen uns hier echt als Lindenhofer, als Dorf. Und wir sind dadurch auch eine Gemeinschaft, was seine Vor- und Nachteile halt hat. Aber ich denke, das ist hier in der Bewohnerschaft schon durchaus verankert. Ja, hier kann dich Hinz und Kunz ansprechen und sagen: „Kannst du mir mal helfen mit den Einkäufen?“, usw und so fort. Und das machst du, da fackelst du nicht lange. Wenn du Zeit hast und die Kraft hast, dann machst du das. Und dasselbe gilt ja auch für die Kinder, dass du sie hier frei spielen lassen kannst und jeder hat immer irgendwie ein Auge drauf.
Jessica: Es ist ja dieses Schöne, dass du diese Siedlung hast und dass es wirklich heißt: „Bitte bleib in der Siedlung oder sag Bescheid, wenn du außerhalb dieser Siedlung gehst.“ Und dadurch haben wir Kinder uns ja relativ frei gefühlt, würde ich sagen. Und freue mich jetzt irgendwie auf der anderen Seite zu stehen, als Elternteil und zu wissen: „Okay, mein Sohn wird hier viele Freunde haben“ – was ich ihm wünsche und hoffe, (zu Hendrik) genauso wie deiner. Vielleicht wachsen sie auch später zusammen, sind dann auch mal eine Clique und unternehmen hier Sachen in der Siedlung und wir werden dann schauen, was wir draus machen oder erfahren werden. Darauf freue ich mich sehr.
Sebastian Mehling: Und sind eure Kinder schon in dem Alter, wo sie Scheiße bauen und ihr das rauskriegen müsst über die Nachbarn?
Speaker4: Nein, nein.
Hendrik: Momentan ist ja immer noch jemand dabei.
Sebastian Mehling: Das heißt, die nächste Generation kommt! Die wievielte Generation seid ihr, oder eure Familien? Gibt es so etwas wie Dynastien?
Jessica: Leider nicht.
Hendrik: Nee, da hätten wir jetzt Lukas gebraucht. Der wäre quasi der Fünfte in seiner Generation. Bei mir ist halt die Mama ist hierhergezogen und ich bin jetzt quasi die zweite Generation, wenn man das so haben möchte. Und Sohnemann wird die dritte Generation sein. Also das heißt, wir haben noch zwei Generationen vor uns, bevor wir zum Adel werden.
Jessica: Genau (lacht).
Erzähler: Das war sie. Unsere Folge zur Stele Nummer fünf hier am Weiher, die auch zum Rundgang der GeWoSüd über die Geschichte und die Geschichten des Lindenhofs gehört. Ihr findet weitere Unterhaltungen von mir mit Lindenhofern und Lindenhoferinnen auf den anderen Stelen hier im Rundgang.
Und ihr findet auch weitere Wissenswertes über Genossenschaften in Berlin, ihrer Geschichte und aktuellen Entwicklungen bei uns im Werkraum des Genossenschaftsforums. Jeden Donnerstag, 15 bis 18 uhr, haben wir unsere Ausstellung geöffnet und jeden zweiten Samstag im Monat führen wir durch den Lindenhof.
Aber jetzt erst einmal wieder: Vielen Dank fürs Zuhören und bis bald, euer Sebastian.