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Stele 1Ledigenheim / Geschäftsstelle

Geschichten:
Wagner, Taut und Migge –
die Köpfe hinter dem Lindenhof
mit Barbara von Neumann-Cosel

Geschichte:
Ledigenheim/Geschäftsstelle

Geschichten:
Wagner, Taut und Migge –
die Köpfe hinter dem Lindenhof
mit Barbara von Neumann-Cosel

Die Audiofolge zum Lesen

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Erzähler: Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen, willkommen bei Geschichte und Geschichten aus dem Lindenhof, einem Projekt der GeWoSüd und des Genossenschaftsforums, in dem es darum geht, die Menschen aus dem Lindenhof zu Wort kommen zu lassen und zu hören, was für sie den Lindenhof ausmacht.

Ich bin Sebastian Meling vom Genossenschaftsforum hier gleich neben dem Bäcker in der Eythstraße 32, unweit dieser ersten Stele des Rundgangs.

Für diese Folge sprach ich mit Barbara Neumann-Cosel, einer Mitbegründerin des Genossenschaftsforum in den 90er vor mittlerweile 30 Jahren. Sie war auch mit dabei, als wir 2021 hier in den Werkraum zogen und ein neues Zuhause im Lindenhof gefunden haben. Unsere Dauerausstellung im Werkraum zur Geschichte der Wohnungsgenossenschaften in Berlin ist im Grunde ihr Vermächtnis, denn sie ist so etwas wie unser wandelndes Genossenschaftslexikon. Deshalb wollte ich auch unbedingt mit ihr über die Geschichte des Lindenhofs sprechen – von seinen Anfängen in der noch jungen Weimarer Republik, über die dann folgenden dunklen Jahre während des Naziregimes und den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ganz besonders aber wollte ich mehr über die Köpfe wissen, die hinter dem Bau des Lindenhofs standen, also Martin Wagner, Bruno Taut und Leberecht Migge. Die sind ja auch verbunden mit vielen genossenschaftlichen Bauten und Projekten, nicht nur in Berlin. Alle drei fingen aber als junge Visionäre damals draußen vor den Toren der Weltstadt Berlin an und legten hier mit dem Lindenhof sozusagen ihr Gesellenstück ab, bevor sie danach mit ihren Ideen und ihrem Elan Berlin prägten und hier auch für die Stadtentwicklung, Architektur und den Wohnungsbau weitere wichtige Meilensteine schufen.

Als erstes wollte ich also von Barbara wissen, wie alles anfing, damals, 1919 mit Martin Wagner auf einem Feld vor der Stadt, oder Jot-Wee-Dee, wie der Berliner sagen würde.

Barbara Neumann-Cosel: Martin Wagner war ja ganz frisch Stadtbaurat von Schöneberg geworden, also damals noch eine eigenständige Stadt vor den Toren der Stadt Berlin. Und seine Aufgabe war es, für den Wohnungsbau in Schöneberg zu sorgen. Und das hat er mit sehr viel Verve getan. Er war ja sehr jung damals. Er war 33 Jahre alt und kam mit sehr viel Ideen zu besserem Wohnen, zu besseren Städtebau und Architektur.

Man wollte weg von der Mietskasernen-Stadt, man wollte mehr Grün zum Wohnen haben, man wollte bessere Wohnbedingungen haben und insbesondere wollte man das Wohnen auch günstiger machen. Und der Zusammenbruch des Kaiserreichs mit der Abdankung 1918 war eine Zäsur. Und es bot halt für die jungen Wohnungsreformer, die ja schon vor dem Ersten Weltkrieg für Alternativen zur Mietskasernen-Stadt gekämpft hatten, die Chance sie jetzt auch erstmals umzusetzen.

Martin Wagner hat das sozusagen gemacht, indem er sich über alles hinweggesetzt hat. Also, es gibt ein sehr schönes Zitat von ihm, wie er schreibt, wie er sich über alle Bauvorschriften hinwegsetzt. Er sagte: „Ich musste mir auch sagen, dass ich unmöglich auf die Genehmigung meines Bebauungsplans seitens der vorgesetzten Behörde warten konnte. Ebenso unmöglich schien es mir, die damals noch staatliche Baupolizei von der Zweckmäßigkeit meiner Pläne zu überzeugen. Zum Schrecken der höheren Instanzen baute ich ohne Bebauungsplan und ohne Baupolizei. Der Siedlung hat es nicht geschadet.“ Also dieses Zitat sagt viel über Martin Wagner, über seine Persönlichkeit aus, dass er einfach auch über vieles hinweg ging und auch einfach angefangen hat, ohne Baugenehmigung zu bauen und gesagt hat: „Werft mich doch ins Gefängnis, ich baue jetzt einfach mal, ich schaffe jetzt einfach mal Fakten.“

Erzähler: Fakten hat er aber nicht nur durch die Bebauung des Lindenhofs ohne Genehmigung geschaffen. Er hat auch die Bauwirtschaft in Deutschland umgekrempelt, Industrialisierung und Massenproduktion vorangetrieben.

Barbara Neumann-Cosel: Wagner hat ja nicht umsonst so eine relativ große Siedlung gewählt, denn seine Idee war ja auch nicht nur, ein neues Städtebau und Architekturkonzept zu haben, sondern auch billiger zu bauen und den Arbeiterwohnungsbau oder den kleinen Wohnungsbau erschwinglich zu machen. Und ein Ansatz dafür war, Typenproduktion zu machen.

Der ganze Lindenhof besteht ja aus zwei Bautypen nur in der ursprünglichen Form und die hat er versucht mit einer in einer Großbaustelle umzusetzen, um so billiger zu bauen. Das war der eine Ansatz und der zweite Ansatz: Er wollte weg von der privaten Bauproduktion. Das war einerseits auch eine Notwendigkeit, denn die private Bauwirtschaft und auch die Wohnungswirtschaft war durch die Krise nach dem Ersten Weltkrieg zusammengebrochen und es hatten sich die sogenannten bausozialen Baubetriebe gegründet. Das waren Genossenschaften von Arbeitslosen und zurückgekehrten Soldaten, die sich mit einem Spaten in der Hand einfach zusammenschlossen und ein Bauunternehmen gründeten. Und Martin Wagner hat diese kleinen sozialen Baubetriebe, diese kleinen Baugenossenschaften, zusammengefasst. Und das war seine Idee, dass er mit diesen selbstbestimmten genossenschaftlichen Bauunternehmen billiger produzieren kann. Er hat sie dann in sogenannte Bauhütten umgewandelt, hat geworben, bei den Baugewerkschaften Kapital darein zu stecken. Und mit der Bauhüttenbewegung hat er versucht, die Rationalisierung der Bauproduktion voranzutreiben. Und für Martin Wagner und viele andere Sozialdemokraten war in den 20er Jahren das ein Ansatzpunkt, die Produktion zu verbilligen, und zwar nicht auf dem Rücken der Arbeiter, sondern für die Arbeiter, um ihnen Zugang zu diesen Produkten und hier in diesem Fall eben zu günstigen Wohnungen zu verschaffen.

Das muss man auch mal sich einfach mal klar machen. Die haben innerhalb von zwei Jahren hier eine Siedlung mit 500 Wohnungen gebaut. Also auf die Baugenehmigungsphase haben sie ja verzichtet. Aber auch von der Bauphase her war das natürlich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und das vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Situation, die total desolat war. Also das war schon eine enorme Leistung, die die hier hingelegt haben – was aber insgesamt man sagen muss für den Wohnungsbau der 20er Jahre. Was in diesen relativ wenigen und wirtschaftlich sehr belasteten Jahren an Wohnungsbau in Berlin geschaffen worden ist, ist einfach enorm und in dieser Form kaum je wieder erreicht worden, weder in der Quantität noch auch in der Qualität.

Erzähler: Und innovativ waren die Wohnungsbauer der 20er Jahre auch. Zum Beispiel, wenn es darum ging, neue Wohnformen auszuprobieren, so wie ein Ledigenheim. Dieses hat Bruno Taut sozusagen als Eingangstor für den Lindenhof entworfen.

Sebastian Mehling: Das Ledigenheim, das Bruno Taut ja hier zugefügt hat. Zu diesem Gesamtentwurf der Kolonie und der Gartenstadt von Martin Wagner. Das steht ja nicht mehr. Aber als es noch stand, bot es 120 Ledigen, also Menschen ohne Familie – das waren vielleicht Zimmermädchen, Tagelöhner – eine Ganztagspension. Also, man konnte dort essen, schlafen und das zu billigen Preisen, so dass eben Menschen aus der Innenstadt, die sich in schwierigen sozialen Bedingungen wiederfanden, hier eine Unterkunft bekamen.

Aber es war ja noch viel mehr als jetzt einfach nur ein Heim, sondern auch eine Art Gemeinschaftseinrichtung für diesen Lindenhof. Im Bruno Tauts Denken war das sehr stark verbunden mit der Idee des Volkshauses. Und da habe ich ein schönes Zitat, was er mit dem Volkshaus meint. Und zwar, sagt er (auch im idealistischen Ton der 20er dreißiger): „Die Volkshäuser haben den vollen harmonischen Klang der Menschengemeinschaft. Die sozial gerichteten Hoffnungen des Volkes finden hier auf der Höhe ihrer Erfüllung.“

Barbara Neumann-Cosel: Ja, das war sozusagen eine der Grundideen dabei, dass man eben nicht nur einzelne Wohnungen schaffen wollte, man wollte ein Stadtquartier bauen, eine eigenständige Stadt. Und dazu gehörten Gemeinschaftseinrichtungen. Es gab hier einen großen Festsaal, der als Kinosaal benutzt wurde. Es gab auch Läden hier, es gab ja eine eigenständige Schule hier, aber man brauchte eben auch diese Gemeinschaftsräume, um sich hier zu treffen. Und die waren gezielt gebaut worden. Man wollte für die Gemeinschaft bauen. Deswegen hatte man ja auch diese genossenschaftliche Form gewählt, um diese Gemeinschaft ganz gezielt zu unterstützen. Also die Architektur, dieses Burgartige, die hat ja auch so ein bisschen mittelalterlichen Charakter hier, auch wenn man sich den alten Grundriss ansieht. Es war ja eine ganz geschlossene Gemeinschaft.

Man muss auch wissen: Draußen rund um waren ja im Wesentlichen nur Felder und Wiesen. Die Straßenbahn, die wurde ja dann 1923 gebaut, das war eine eingleisige Straßenbahnlinie, die endete hier oben am Ledigenheim. Die wurde übrigens Wüstenbahn genannt. Also die hat sozusagen dieses Bild auch aufgegriffen, dass man sozusagen ans Ende der Welt fuhr, um hier den Lindenhof zu sehen.

Sebastian Mehling: Oder Jot-Wee-Dee

Barbara Neumann-Cosel: Ja, es war absolut Jot-Wee-Dee. Die Straßenbahn war trotzdem permanent überlastet und überfüllt, weil es die einzige Verbindung in die Stadt war, so das auch ganz häufig Leute nicht mitgenommen werden konnte. Und es hat lange gedauert bis in die späten 20er Jahre der S-Bahnhof Priesterweg endlich, endlich eröffnet wurde und damit die bessere Verbindung in die Stadt geschaffen wurde.

Erzähler: Auch weil der Lindenhof anfangs so schlecht an Berlin angebunden war, war Eigenständigkeit und Selbstversorgung ein großes Thema in der Planung. Auch deswegen war es wichtig, dass Martin Wagner mit dem jungen Landschaftsarchitekten Leberecht Migge zusammenarbeitete, welcher schon seit seiner Dissertation davon träumte, an einer Gartenstadt mitzubauen.

Barbara Neumann-Cosel: Die Gartenstadt ist ein Konzept, das um die Jahrhundertwende aus England nach Deutschland kommt und in dieser ursprünglichen Form, dass man eine eigenständige Stadt baut, die die Vorteile des Stadtlebens, also viel Kultur, Arbeitsplätze, nahe Verkehrswege verbindet mit dem Wohnen auf dem Lande – gute Luft, viel Grün, viel Natur, eigene Gärten an den Häusern – also diese beiden Vorteile sollen in dem Konzept der Gartenstadt verbunden werden.

Und was ganz wesentlich ist dafür: Man hatte das von Anfang an, auch in England, schon verbunden mit dem genossenschaftlichen Wohnkonzept. Also es sollte ein genossenschaftliches gemeinschaftliches Eigentum dabei entstehen. Und dieses Gartenstadtkonzept, das hat, haben Wagner und dann auch Taut und Leberecht Migge aufgegriffen. Das war ihr städtebauliches Konzept und das wollten sie hier im Lindenhof zum ersten Mal in größerem Umfang umsetzen. Und das Konzept von Leberecht Migge, diese Selbstversorgung in dem eigenen Garten, das muss man ein bisschen aus der Zeit sehen. Wir waren ja unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges und im Ersten Weltkrieg gab es massive Versorgungsprobleme der Bevölkerung. Es gab ja den berühmten berüchtigten Hungerwinter 1917, den Steckrübenwinter, wo die Versorgung der Bevölkerung einfach nicht mehr gesichert war. Und vor diesem Hintergrund war natürlich die Vorstellung, man könne sich aus eigenem Garten mit Obst und Gemüse selber versorgen, hoch attraktiv.

Und darauf hatte Leberecht Migge ja seinen Garten und Grünkonzept ausgebaut. Es gab dann auch hier in der Siedlung richtig Schulungen für die neuen Bewohner. Die, die ja aus der Stadt kamen und die das nicht kannten, sich selber Gemüse anzubauen. Es gab gemeinsamen Saatmitteleinkauf, man wurde ausgebildet, man unterrichtete sich auch selber und es wurden sehr viel Nutztiere gehalten. Dazu gibt es ein sehr nettes Zitat. Ach ja, hier, da aus der eine eigenen Siedlerzeitung, wo die offiziellen Informationen vermittelt wurden. Und da fand sich dann zur Tierhaltung folgendes: „In einem Stall sind zwei Ziegen, zwölf Enten, 30 Hühner und zwölf Kaninchen gezählt worden. Für solche Massenzucht sind unsere kleinen Ställe doch nicht eingerichtet worden und es wäre dringend zu wünschen, dass hier mal der Vorstand eingreife.“ Also solche Zitate findet es dann auch. Also es muss gegackert und gekräht haben, hier in der Siedlung.

Erzähler: Wagner, Taut und Migge ließen den beschaulichen Lindenhof aber schon bald nach Fertigstellung hinter sich. Für sie ging es weiter und jetzt erst richtig los mit ihren sozialreformerischen Bauvisionen in Berlin – bis 1933 ihr Elan jäh gebremst wurde.

Sebastian Mehling: Martin Wagner ist nicht Baustadtrat von Schöneberg geblieben, sondern dann von der Baustadtrat von Großberlin geworden und hat ja auch Berlin in den 20er Jahren maßgeblich geprägt. Man kennt das Karstadt am Hermannplatz. Er hat aber auch andere, größere Bauten geplant. Ich glaube, das Messegelände hatte er geplant.

Barbara Neumann-Cosel: Ganz berühmt ist ja Wannsee, also die Freibäder, die er geschaffen hat für die Stadt.

Also das ist das eine. Aber er ist ja bei dem Thema auch Wohnungsbauproduktion geblieben. Er hat dann und dafür ist der Lindenhof eigentlich die Blaupause gewesen, das Modell gewesen für sein Wohnungsbaukonzept der 20er Jahre. Er hat ja hier in diesem Fall die Kommune bauen lassen und dann anschließend die fertige Siedlung der Genossenschaft übergeben. Und dieses Modell, das quasi professionell in großem Stil gebaut wird und dann aber von einer Genossenschaft verwaltet wird, das hat er mit seinem DEWOK-Modell reichsweit und in Berlin mit der EHAG baute professionell – in Berlin übrigens mit Bruno Taut als Chefarchitekt, also das Team ist erhalten geblieben. Hier an dem Lindenhof haben sie quasi gelernt. Und Bruno Taut wurde dann Chefarchitekt der GEHAG und hat hier in Berlin über 10.000 Wohnungen architektonisch betreut.

Sebastian Mehling: Ganz berühmt: die Hufeisen Hufeisen.

Barbara Neumann-Cosel: Die Hufeisensiedlung. Genau.

Sebastian Mehling: Übrigens auch wieder mit Leberecht Migge. Also auch das Team hat sich hier erhalten. Sie haben ja hier, glaube ich, Ihr erstes Projekt zusammen gemacht und dann immer wieder auch zusammengearbeitet.

Barbara Neumann-Cosel: Ja, das muss man sich vorstellen. Das waren einfach junge Planer, die durch nichts mehr aufzuhalten waren. Die waren alle ungefähr in einem Alter, die waren alle Anfang, Mitte 30 und waren beseelt von der Idee, eine bessere Stadt zu bauen – im Sinne der Bewohner und im Sinne der Menschen hier.

Sebastian Mehling: Sie waren aufhaltbar, nämlich nach 1933. Da war für Martin Wagner und Bruno Taut hier eigentlich das Spiel vorbei. Sie mussten dann emigrieren.

Barbara Neumann-Cosel: Ja, das war sozusagen ein Hauptziel der Nazis: Die Ausschaltung dieser sozialdemokratischen Konzepte. Und die Lindenhof Genossenschaft, die ursprüngliche Bewohnergenossenschaft des Lindenhofs, ist ja sehr stark von den Nationalsozialisten verfolgt gewesen, weil sie auch diese sozialdemokratische Ausrichtung als Genossenschaft hatte.

Der erste Ansatz war ja relativ schnell nach der Machtergreifung, das mit brutaler Gewalt die Vorstände und Aufsichtsräte zum Teil verhaftet wurden und hier in der General-Pape-Straße inhaftiert waren. Und gleichzeitig wurden Neuwahlen angesetzt – Wahlen muss man jetzt in Anführungsstrichen sagen – wo also Parteivertreter in die Gremien geschickt wurden. Das nannte sich dann Gleichschaltung. Man behielt zwar die Gremien bei, aber sie waren jetzt mit Parteimitgliedern besetzt. Und trotz dieser brutalen Akte waren die Lindenhofer nicht bereit, das so zu akzeptieren und haben sich gewehrt. Mit Händen und Füßen dagegen. Und der letzte Akt eigentlich der Nationalsozialisten war, die Genossenschaft Lindenhof Zwangs zu vereinigen mit einer damals staatstreuen Genossenschaft, der Landbau. Und so ist die heutige GeWoSüd, die Trägerin der Lindenhofsiedlung, entstanden. Diese Geschichte der Genossenschaft hat sich natürlich dann sozusagen in der Nachkriegszeit weiterentwickelt. Sie ist über diese Zwangsfusionen dann hinweggegangen und es hat sich heute eine lebendige Genossenschaft daraus entwickelt, die demokratisch dann wieder funktioniert hat.

Erzähler: Demokratisierung der Genossenschaft und vor allem auch Wiederaufbau des Lindenhofs waren dringliches Programm in einer zerbombten Stadt, in der wie schon nach dem Ersten Weltkrieg große Wohnungsnot herrschte.

Barbara Neumann-Cosel: Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es jetzt vorrangig darum, Wohnungen zu bauen, hell zu bauen, belüftet zu bauen und das in großem Umfang.

Sebastian Mehling: Das sieht man ja hier auch ganz gut an dem Beispiel des Punkthauses, des sogenannten, das in der Nachkriegszeit 1954 gebaut wurde, von den Hausarchitekten der GewoSüd, Gustav Müller und Franz Heinrich Sobotka. Das Punkthaus und auch die anderen Bauten dahinter, die zu dieser Zeit entstanden sind, waren ja auch Teil des Marshallplans.

Barbara Neumann-Cosel: Ja, erst dann war es überhaupt möglich, hier zu bauen. Also der Lindenhof war ja zu 60 % zerstört gewesen. Das lag daran, dass er zu nah an Eisenbahnverbindungen dran war und deswegen ist er zwischen 1943 und 1945 in so großem Umfang zerbombt worden.

Man hat am Anfang natürlich in den ersten Jahren nach dem Krieg erstmal nur versucht, die Dächer zu reparieren und die Häuser einigermaßen wieder bewohnbar zu machen und dann aber mit den Möglichkeiten des Marshallplans gesehen, einerseits mehr Wohnungen zu schaffen. Das war auch schon eine Idee. Man war dann weg von dem kleinen Einfamilienhäuschen, sondern es sind ja Zeilen gebaut worden, Geschosswohnungsbau. Damit konnte man natürlich einfach mehr Wohnungen schaffen. Das war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch wieder ein dramatische Problem. Und man war natürlich auch weg von dem Selbstversorgermodell, sondern das Grün war jetzt tatsächlich auch, kann man bös sagen, Abstandsgrün geworden, also es waren eher Parkflächen geworden.

Von daher steht der Lindenhof eben heute modellhaft für die Anfänge in den frühen 20er Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, aber eben auch wieder für den zweiten Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist einfach ein Architekturdenkmal, muss man sagen, das heute für viele, viele Neuanfänge steht.

Sebastian Mehling: Gibt es etwas aus dem Lindenhof, bei dem du sagst, da können wir auch noch was für unsere heutige Zeit lernen, was mitnehmen, vielleicht was wiederentdecken und weiterentwickeln?

Barbara Neumann-Cosel: Also was man auf alle Fälle mitnehmen muss, ist die Nachhaltigkeit der genossenschaftlichen Idee. Das gilt erst einmal baulich, denn wir stehen ja vor einem Projekt, was jetzt hier vor 100 Jahren gebaut wurde und die Teile, die nicht kriegszerstört sind, sind ja heute noch da und annehmbar. Aber es gilt auch wirtschaftlich, weil es ist heute noch erschwingliche Häuser sind. Sie sind bezahlbar, immer noch. Wenn es eine Eigenheimsiedlung wäre, würden jetzt hier heute Höchstpreise verlangt werden und es wäre nur noch für Gutverdienende möglich, hier zu wohnen. Die genossenschaftliche Form ermöglicht es, dass auch heute, nach 100 Jahren, hier ein Wohnen auch für Geringverdiener möglich ist. Und was nach wie vor ein großes Plus der Genossenschaft ist, ist dieses Leben in der Gemeinschaft. Und gerade die GeWoSüd ist ja eine Genossenschaft, die dieses gemeinschaftliche Leben und Miteinander ihrer Mitglieder sehr fördert, nicht nur im Lindenhof, sondern auch in ihren anderen Siedlungen.

Sebastian Mehling: Barbara, vielen Dank für das Gespräch.

Barbara Neumann-Cosel: Gerne.

Erzähler: Das war unsere erste, etwas längere und einleitende Folge im Rundgang der GeWoSüd zur Geschichte und den Geschichten des Lindenhofs.

Ihr findet weitere Unterhaltung von mir mit Lindenhofern auf den anderen Stelen und weiteres Wissenswertes über die Genossenschaften in Berlin, ihrer Geschichte und aktuellen Entwicklung erfahrt ihr bei uns im Werkraum des Genossenschaftsforums. Jeden Donnerstag, 15 bis 18 Uhr, haben wir unsere Ausstellung geöffnet und jeden zweiten Samstag im Monat führen wir durch den Lindenhof.

Aber jetzt erst einmal: Vielen Dank fürs Zuhören und bis bald, euer Sebastian Mehling.

100 JahreLindenhof

Stele 1 – Ledigenheim/Geschäftsstelle

Das Ledigenheim, das von Bruno Taut entworfen wurde und 1919 zusammen mit den ersten Häusern des Lindenhofs erbaut worden war, bot 120 kostengünstige, aber sehr kleine Ein-Zimmer-Wohnungen und fungierte als Eingangstor in die Siedlung Lindenhof. Bruno Taut war ein mit Martin Wagner befreundeter Architekt, der 1880 in Königsberg geboren wurde und 1938 in Istanbul an den Folgen einer Lungenerkrankung starb. Durch das Gebäude, das der Stadt Berlin zugewandt war, gelangte man von der Nordostseite des Lindenhofs in die Suttnerstraße als zentrale Achse der Siedlung, die zum Weiher führte.
Der burgähnliche Charakter des Gebäudes spiegelte die Abschottung des zur damaligen Zeit abgelegenen Lindenhofs als Kolonie wider und schuf eine sichtbare Wirkung von Außen und Innen. Im Erdgeschoss befanden sich neben Läden auch ein Restaurant, ein Clubraum und ein großer Festsaal, der den Bewohnern des Heims wie auch der ganzen Lindenhof-Siedlung offenstand. Im Ledigenheim hatte bis 1929 auch die Geschäftsstelle der Genossenschaft Lindenhof e.G. ihren Sitz.

Der Clubraum und der Festsaal des Ledigenheims waren im expressionistischen Stil gestaltet. Taut hatte die mit ihm befreundeten Künstler Paul Goesch und Franz Mutzenbecher dafür engagiert. Dargestellt wurden Szenen der genossenschaftlichen Gemeinschaft. Der avantgardistische, progressive Stil war jedoch von Anfang an umstritten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden noch im selben Jahr die Räume durch den neuen Pächter umgestaltet.

Im Zweiten Weltkrieg wurden große Teile des Ledigenheims bei einem Luftangriff 1943 zerstört. Die verbliebene Ruine des Mittelbaus wurde nach Kriegsende im Vorfeld des Wiederaufbaus beseitigt.

Anstelle des zerstörten Ledigenheims wurde ab 1953 im Rahmen des Wiederaufbaus der Siedlung Lindenhof ein siebengeschossiges Wohn- und Gewerbegebäude in der Eythstr. 45 errichtet. Das von den Architekten Franz-Heinrich Sobotka und Gustav Müller entworfene „Punkthaus“, wie der Bau wegen seiner charakteristischen runden Fenster auch genannt wird, entspricht den planerischen Idealen der Nachkriegsmoderne und schottet den Lindenhof nicht mehr von der Außenwelt ab, sondern gibt den Blick und den Weg in die Suttnerstraße frei. Dennoch greift das Gebäude die Funktion des ehemaligen Ledigenheims wieder auf, indem – ebenfalls in den 1950er-Jahren – dort ein Restaurant mit Saal entstand, um den Bewohnern des Lindenhofs einen Raum für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Außerdem wurde die Eythstr. 45 zum Sitz der Genossenschaft. 2005 erfolgte die Sanierung des gesamten Komplexes und die Errichtung eines gläsernen Anbaus.

Die Ecke Eythstr./Domnauer Straße, wo sich der ehemalige Hauptteil des Ledigenheims befand, wurde im Rahmen des Wiederaufbaus der Siedlung Lindenhof nicht bebaut. Erst 1977 entstand in dieser Baulücke ein sechs- bis siebengeschossiger Neubau mit 68 Wohnungen. Der freie Zugang zur Suttnerstraße und zum Lindenhof blieb durch eine Überbauung erhalten.

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